Die untenstehende Notiz im SPIEGEL hat mich erschreckt und aufgewühlt. Ich kann es kaum glauben, dass heute noch eine Behörde irgendwo in einem zivilisierten Land auf den Gedanken kommen kann, den Ärmsten, den Gescheiterten der Gesellschaft zu verbieten, um ihr Überleben zu ringen. Aber leider ist mir auch sehr klar, dass Hackney gleich um die Ecke hier in meiner Nähe liegt und dass viele Einwohner nichts Verwerfliches an solchen Behördenmassnahmen finden. Man muss diesen Text wirklich zu Ende lesen und dann eine ganz ehrliche Selbstbefragung machen:
„Bis zu tausend Pfund: So teuer kann es werden, wenn man im Londoner Stadtteil Hackney auf öffentlichen Plätzen bettelt, Alkohol trinkt oder auf der Straße schläft. Weil die neue Regelung Obdachlose diskriminiert, formiert sich nun Protest. „Hast du die alte Dame gesehen, die durch die Straßen von London geht“, heißt es in dem bekannten Siebzigerjahre-Song „Streets of London“ von Ralph McTell, „Schmutz in ihren Haaren und ihre Kleidung in Fetzen.“ Und in dem Refrain des Songs fragt der Liedermacher: „Wie kannst du mir also sagen, dass du einsam bist – und dass für dich die Sonne nicht scheint?“ So wollte McTell auf die Menschen am Rande der Gesellschaft aufmerksam machen, auf Obdachlose und einsame Alte.
Der berühmte Text scheint in Teilen der britischen Hauptstadt in Vergessenheit geraten zu sein. Zumindest im Stadtteil Hackney. Denn dort ist Ende Mai die sogenannte Public Space Protection Order (etwa: „Anordnung zum Schutz des öffentlichen Raumes“) in Kraft getreten. Die neue Regelung sieht vor, dass es auf öffentlichen Plätzen unter anderem verboten ist, „zu betteln, Alkohol zu trinken, sich asozial zu verhalten“ sowie „auf der Straße zu schlafen“. Wer dagegen verstößt, kann mit Strafen in Höhe von hundert Pfund belangt werden, wer diese nicht zahlt, kann von einem Gericht zur Zahlung von tausend Pfund (rund 1360 Euro) verdonnert werden.
Viele Bürger laufen nun Sturm gegen die Verordnung, weil dadurch auch Obdachlose zu den hohen Strafzahlungen gezwungen werden könnten. Bis Mittwochnachmittag unterzeichneten im Internet mehr als 30.000 Menschen eine Petition, die fordert, der Diskriminierung von Obdachlosen im Stadtteil Hackney ein Ende zu setzen. Die Initiatoren der Petition bezeichneten es als „absurd“, einen Obdachlosen zu derartigen Strafen zu verurteilen. Der Text fordert, dass niemand für das „Verbrechen“ bestraft werden dürfe, „kein Dach über dem Kopf zu haben“.
Auch in britischen Medien wird die Regulierung scharf kritisiert. Man stelle sich das mal vor, heißt es in einem Artikel in der Tageszeitung „The Guardian“: „Sie haben Ihren Job verloren und Ihr Zuhause, Ihr Leben geht in die Brüche, und Sie schlafen auf der Straße. Sie sind verzweifelt. Aber statt Unterstützung zu erhalten, damit Sie wieder auf die Füße kommen, werden Sie wie ein Verbrecher behandelt und mit einem Bußgeld bestraft, das Sie sich nicht leisten können“, schreibt in einem Gastbeitrag der Autor Jon Sparkes, der die britische Hilfsorganisation Crisis leitet. „Klingt brutal?“, fragt er. Das sei aber genau das, was in Teilen der Stadt London gerade geschehe. Die Stadtverwaltung verteidigte die Anordnung. Die Behörde versicherte, diese werde als letzter Ausweg betrachtet und sei für wiederholte Verstöße gedacht.“ bos/AFP
SPIEGEL ONLINE 03. Juni 2015