Dieses Interview mit Franz Thaler, (Interview_Franz Thaler) hat mich sehr berührt und gleichzeitig auch auf verschiedensten Ebenen zu einer kritischen Auseinandersetzung angeregt.
Ich bin erschüttert, wie dieser gebrochene Mann, tapfer bis zu seinem Tod, seinen Schmerz unterdrücken, verlagern und umformen muss, um überhaupt zu überleben. Über ein Stottern, ein unbeholfenes Sprachesuchen, kommt er nicht mehr hinaus. Seine Worte sind wahrhaftig, aber nur dem / der wirklich Offenen zugänglich und sie erreichen in ihrer tiefen Bedeutung nur die Zugewandten und Sensiblen. „Wer es fassen kann, der fasse es“.
Die traurige Wahrheit, die sich in diesem „Stammeln“ spiegelt, ist die Einsamkeit, in die ihn sein Schicksal unwiderruflich katapultierte. Niemand sieht und versteht ihn letztlich und er bleibt ein Gezeichneter sein Leben lang. „Einen Tag ohne Angst hat es nicht gegeben“. Ich lese dies so, dass letztlich die Angst nicht nur für die Zeit im KZ lebte, sondern mindestens unterschwellig das Grundgefühl Tag für Tag bleibt bis zu seinem Tod.
Mich berührt die Schilderung seiner Sprachfindung mittels seines Buches „UNVERGESSEN. EIN SARNER ERZÄHLT“ – „Ich habe stundenlang an der Werkbank geschrieben….. Oft bis in die Nacht hinein. Für einen Satz habe ich manchmal eine Stunde gebraucht, damit er das aussagt, was ich wollte. Meine Schrift ist winzig klein …. Einige Jahre habe ich dafür gebraucht….“ Welch ein gigantischer Befreiungsversuch!!! – Welche gigantische Widerstände!!!! „Mir ging es darum, die Wahrheit über diese Zeit zu erzählen. Das hat es gebraucht, damit es nie wieder passiert.“
Es berührt mich tief, diesen Befreiungsakt zu spüren und gleichzeitig auch zu sehen, wie die Befreiung letztlich massiv an die eigenen inneren und äussern Grenzen stösst. Denn die alten Nazis wollten nichts davon wissen, aber auch viele „Normale“ meinten, man müsse endlich mit den alten Sachen aufhören und vergessen.
So lese ich denn auch mit zwiespältigem Herzen die Informationen, wie Franz Thaler in seiner Umwelt Bozen als „Ehrenbürger-Sonderling“ seinen Platz besetzte: In der Tracht als Sarner!! Und mit dem Bürgermeister ist er ein guter Kollege. Aber in seinem Dorf wollte niemand etwas hören von seinen „Geschichten“ So blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzuschreiben, was er im Konzentrationslager Dachau erlebt hatte – obwohl er nie eine deutsche Schule besucht hatte .
Erst mit dem Aufschreiben „hat es richtig angefangen“, bis dahin musste er alles allein mit sich herumtragen, nicht einmal seine eigene Frau wusste es. Seine eigenen Kinder – was für ein Glück!! – waren es, die wissen wollten, was er erlebt hatte. Und sie halfen mit ihrer Wissbegier am Schicksal ihres Vaters, diesem zu seiner Befreiung.
Gemessen an den historischen und sozialen Ungeheuerlichkeiten, die ihm schicksalshaft passierten, ist dies ein bescheidenes individuelles Glück, welches ihm ermöglichte, zu verzeihen, Frieden zu schliessen. Es ist die tragische Realität des Opferschicksals, im Leben die Möglichkeit der Entscheidung über sein Leben total verloren zu haben.
Voller Ehrfurcht verstehe ich darum auch Franz Thalers Schlusssatz im Interview mit Heinrich Schwazer: „ Das was ich meinen Kindern immer gesagt habe. Dass sie selber denken und niemandem nachlaufen sollen.“ Mit diesem Satz erschliesst sich mir Franz Thalers Leben nicht einfach als „Opferschicksal“ sondern als unglaublich kraftvolles und mutiges „Widerständlerkämpfertum“.
Ich verneige mich vor diesem grossen kleinen Mann, dessen Demut so verführerisch meine „Hochmut“ reizte und der mich letztlich beschämt und sehr nachdenklich zurück lässt.
Kurzer Nachtrag zu „Unvergessen“
Die Lektüre des berührenden Interviews mit Franz Thaler in der TAGESZEITUNG liess mich – als Nicht-Südtiroler und als Noch-nicht-Leser“ seines Buches „Unvergessen“ betroffen und mit vielen Fragen zurück. Was war die grosse und beispielhafte Lebensleistung dieses offenbar grenzenlos leidensfähigen Mannes? Was war aus seiner ganz persönlichen Sicht – eines „ungebildeten“ Südtiroler Bauernbuben – das Schmerzvollste, das Elendeste an dem, was ihm widerfahren war? Wie kam er zur so klaren Erkenntnis des Unterschiedes zwischen „Verzeihen“ und „Vergessen“? Warum war das Vergessen so wichtig, so gewichtig in seiner Lebensumwelt?
Ich kaufte mir das Buch – erschienen 1988 – , welches im Raetia-Verlag seit 1999 als Teil des fixen Verlagsprogramms, und empfohlen als Schullektüre, auch im Schweizer Buchhandel ohne Probleme erhältlich ist. Die Aufmachung in kartoniertem Umschlag, das klare und grosse Schriftbild, die eindrücklichen Zeichnungen, die wenigen sorgfältig editierten Fotos und die behutsam ausgewählten Briefe an den Autor, wie auch die unaufgeblasenen Kommentare des Herausgebers und des Historikers, luden mich zur Lektüre ein.
Die eindringlich auf das erlebte Schreckensschicksal Franz Thalers fokussierte Schilderung in ihrer einfachen ehrlichen Sprache erreichte mein Herz und erschütterte mich. Was für eine Unschuld! Was für ein Schmerz! Was für ein Grossmut! Diesem bescheidenen Sarner Bauernbub gelang es, mich die ganze grauenhafte Realität der Nazi-Menschenverachtung in tiefer Betroffenheit nachleben zu lassen.
Noch klarer kann ich nach der Lektüre Thalers wichtigen Schritt der Zivilcourage, vor allem nach Ende des Krieges, heute erkennen und bewundern: Er hält unserer Gesellschaft den Spiegel vor und zeigt uns, dass die Gewalt und der Hass immer gegenwärtig sind und dass sie alle Tricks und Methoden kennen, sich zu verbergen, um die Andern zu den Schuldigen zu erklären.
Eindrücklich zeigt dies uns Franz Thaler in der Schilderung, wie innert kurzer Zeit das von den Opfern für die Opfer erstellte Denkmal zum „Heldendenkmal“ wird und wie die eigentlichen Opfer (die mutigen Verweigerer) zu den“ Verrätern“ werden.
„Nur die ganz Tapferen, die bis zuletzt für den Führer treu gekämpft hatten, durften vor dem Kriegerdenkmal als „Helden“ auftreten… da hatten wir „Kriegsverbrecher“ und Kriegsverräter, wie man uns nannte, nichts mehr zu suchen…“
Die – durch dieses Buch vermittelte – glaubhafte Friedensbotschaft des Autors, sich auch dadurch nicht zum Hass und zur Rache aufstacheln zu lassen, überwältigt und ermutigt mich zu tiefst.
„Wir standen während der Feier irgendwo unterm Volke und beteten für unsere Kameraden, denn das konnte uns niemand verwehren.“
Hier das erwähnte Buch: