Ich hab mich mit einer absolut interessanten geschichtlichen Dissertation befasst: Claudia Töngi „Um Leib und Leben“ Gewalt, Konflikt, Geschlecht im Uri des 19. Jahrhunderts.
Es ist dies die 450-seitige Geschichts-Dissertation aus dem Jahre 2004 der heutigen Abteilungsleiterin „Forschung und Doktorat“ an der Uni Basel. ich habe das anspruchsvolle Buch vor ca 3 Jahren schon einmal durchgeschaut, es hat jedoch durch die heutige politische Situation, nämlich der Konfrontation mit der muslimischen Kultur der patriarchalen Geschlechterverhältnisse, neue und beklemmende Aktualität behalten.
Immer mehr kommt es mir dabei nahe, dass im 19. Jahrhundert in der einfachen Beziehung zwischen Frau und Mann genau alle die Mechanismen lebendig und aktiv waren, wie wir Europäer sie bei den muslimischen Familien mit Erschrecken feststellen.
Haupterkenntnis: Bisher sind im Kulturraum Uri zum Thema Familiärer Gewalt und Konflikte fast keine nennenswerten Forschungen getrieben worden. Die meisten umfassenden und kompetenten Arbeiten (Vor allem von Männern) befassen sich mit Machtthemen der herrschenden Schicht der Urner Gesellschaft und das sind in dieser Kolonialmacht die Händler, die Reisläufer, die Statthalter, die Politiker und die Pfaffen. Die Archive sind zu diesen Themen auch bestens gefüllt und nachgeführt und die Inventare der Kunst- und Baudenkmäler sind eindrücklich und ausnahmslos herrschaftsorientiert.
Diese riesige, umfassende und bewundernswerte Arbeit holt nun aus den Archiven der Gerichte und der Bischöflichen und Pfarramtlichen Kommissariate eine andere – bedrückende und erdrückende Realität hervor: Den Alltag einfacher Familienfrauen, unverheirateter Mütter, von Witwen und jener von kinderlosen Mägden und jungen Frauen. Die Unterlagen sämtlicher Prozesse zum Thema innerfamiliärer Beziehungen, sexueller Macht und Erniedrigung der Frauen sind vollständig erhalten und dank der speziellen Art der gerichtlichen Vorgehensweisen und Vorgaben auch exzellent formuliert, so dass diese ganze Dissertation exemplarisch Beispielfälle selber durch die Protokolle in der „Direkten Rede“ für sich sprechen lassen kann. Dies gibt der Arbeit eine beklemmende und fast betörende Form und ich kann kaum mehr aufhören mit der Lektüre, die sich auch durch diese besondere Form mir inhaltlich nachhaltig einprägt.
Fazit: In dieser Gesellschaft gab es zwei Alternativen: „Verführung“ oder „Vergewaltigung“. Das ganze System war so ausgelegt, dass ein höher gestellter Mann niemals verurteilt wurde, eine Frau vergewaltigt zu haben: Immer war sie am Schluss jene, die ihn verführt hatte. Ein niedriggestellter Mann wurde jedoch problemlos der Vergewaltigung bezichtigt nach dem Schema „Der Unheimliche im Dunklen Wald“. Solange es keine Toten gab, wurden alle diese Gewaltvorfälle – und solche sind viele belegt – als Bagatellen mit Geldstrafen, bis ca 1850 mit Prügel und Pranger, und mit Gefängnis bestraft. Mir graut immer noch, wenn ich das Thema an mich heranlasse.